Fast ein Jahr lang bereiteten sich ukrainische Jugendliche im Kurs «START! Berufsbildung» auf ihren Einstieg in die Schweizer Berufswelt vor. Zum Abschluss des Brückenjahres würdigte Bundesrätin Elisabeth Baume-Schneider mit ihrem Spontanbesuch diese Leistung und erkundigte sich in Gesprächen persönlich nach deren Lebenssituation und Zukunftsplänen.
«Wenn ich nicht an die Schule gekommen wäre, kann ich mir nicht vorstellen, wie ich mich weiterentwickelt hätte», schreibt Alex zum Abschied auf WhatsApp. Rastislav bemerkt, er habe gelernt, man müsse selbstbewusst an sein Ziel gehen und dafür lernen. Sein Kollege Nazar denkt ähnlich: «Vielen Dank für dieses Jahr», schreibt er seiner Klassenlehrperson, «es war sehr aufregend und nützlich für uns. Selbst in unserer schwierigen Lebensphase haben Sie uns Hoffnung und ein Lächeln geschenkt». Was war geschehen?
Soeben hatten sie, zusammen mit 12 ukrainischen Jugendlichen, ihr Programm an der EB Zürich beendet und waren bereit für die nächste Etappe in der Berufsorientierung in der Schweiz. Dies war – auch aufgrund der persönlichen Situation der jungen Flüchtlinge – nicht selbstverständlich.
Viel Beziehungsarbeit zu leisten
Die Jugendlichen hatten im September 2022 den Kurs «START! Berufsbildung» begonnen, der sie auf den Einstieg in das Schweizer Berufsleben vorbereitete. Der Anfang sei für die Jugendlichen nicht einfach gewesen, gesteht die Klassenlehrperson Dominique Sandoz Mey. Zusammen mit ihrer Kollegin Anita Bühler musste sie viel in die Beziehung mit den Jugendlichen und deren Integrationsfähigkeit investieren. Dass auch eine junge Russin im Kurs war, stellte für alle Beteiligten eine Herausforderung dar, die gut gemeistert werden konnte.
Quote
«Unser Ziel war, den Jugendlichen einen stimmigen und guten Lern- und auch schützenden Zufluchtsort zu bieten – das ist uns gelungen.»
Viele Jugendliche hatten zu Beginn des Kurses noch die Hoffnung gehegt, schnell in die Ukraine zurückzukehren und dort die Schule bzw. die Ausbildung beenden zu können. Ab Januar 2023 wurde aber immer klarer, dass sie in der Schweiz bleiben und hier eine Ausbildung beginnen würden. Diese schmerzliche Einsicht brauchte seine Zeit, erzählt Dominique Sandoz Mey. Zu diesem Zeitpunkt begannen die Jugendlichen, sich im Kurs mit dem Bildungssystem und der Berufsorientierung zu befassen. Dies sollte sie auf ihre Zukunft und auf die Anforderungen der Berufsbildung in der Schweiz vorbereiten. Sie besprachen ausführlich das Schweizer Ausbildungssystem, die Vielzahl der Berufe (ca. 250!) und besuchten das Laufbahnzentrum der Stadt Zürich und einzelne Berufsinformationszentren im Kanton Zürich. Das Ziel bis Ende Juni war es, eine Lehrstelle bzw. eine Anschlusslösung nach dem Kurs zu finden. Dass ihre Leistung am Kursende mit einem ganz speziellen Besuch gewürdigt werden würde, konnten sie zu diesem Zeitpunkt noch nicht ahnen.
Besuch kündigt sich an
Einen Monat vor Kursende kontaktierte Christoph Lenz, Kommunikationschef im EJPD, die EB Zürich. Dessen Vorsteherin, Bundesrätin Elisabeth Baume-Schneider, wolle eine Abschlussklasse «START! 4U + BB» besuchen und sich bei einem direkten Austausch mit den Jugendlichen ein eigenes Bild von deren Situation machen. Gabriela Notter, Leiterin Administration, war begeistert von dieser Idee und schnell fand sie zusammen mit Herrn Lenz – trotz bürokratischer Hürden und Sicherheitsbedenken – einen unkomplizierten Weg für diesen besonderen Besuch.
Zu Beginn, so erzählt Dominique Sandoz Mey, konnte ihre Klasse diesen Besuch nicht richtig einordnen und hatte auch keine grossen Erwartungen: Wer wollte sie besuchen? Warum? Was hatte das mit ihnen zu tun? Bis die Jugendlichen realisierten, dass genau die Bundesrätin kommen würde, die für ihre persönliche Aufenthaltsdauer verantwortlich war, dauerte es. Auch wenn der Schutzstatus S vor dem Ende der Lehrzeit aufgehoben werden sollte, dürfen die Jugendlichen ihre Ausbildung beenden. Dank des Kurses waren sie nun parat, die Bundesrätin zu treffen und ihr Fragen zu ihrer eigenen Zukunft in der Schweiz beantworten zu können.
Intensive Vorbereitung und Fragen
In der Klasse herrschten plötzlich grosse Aufregung, Nervosität – und Begeisterung zugleich. Zu jener Zeit beschäftigten sie sich mit Schweizer Persönlichkeiten wie Giacometti, Dunant oder Spyri – neu hinzu zu dieser Liste kam die Bundesrätin: Die Teilnehmer/innen gestalteten Pinwände über das Schweizer Politische System und den politischen Werdegang von Elisabeth Baume-Schneider und überlegten sich Fragen für sie: Zum Schutzstatus S für sie und ihre Familienangehörigen, zur Ausbildung und Wohnsituation, zu Problemen mit der Wohngemeinde u.v.a.m. Wie würde die Bundesrätin darauf reagieren? In Form eines World-Café mit Stehtischen sollten sich jeweils zwei bis drei Jugendlichen direkt und ungezwungen mit ihr austauschen und ihre Fragen nach den Zukunftsplänen beantworten. Namensschildchen auf deutsch und ukrainisch sowie Blumen auf den Tischen wollten sie aufstellen, sich persönlich der Bundesrätin vorstellen und zum anschliessenden Frühstück wollten sie selbst ukrainische Spezialitäten backen.
Nach kurzen Ansprachen von Rektor Sven Kohler und Nikolaus Schatzmann, Amtschef des MBA, stand Elisabeth Baume-Schneider in der Aula vor den Jugendlichen. Sie freue sich, dass sie sich Zeit für sie nähmen, und bedankte sich dafür, dass sie über sich selbst erzählen wollten. Sie sei beeindruckt, dass die Jugendlichen in ihre Bildung investierten, sich aus- und weiterbildeten und damit selbständig bestimmten, wie ihr Leben aussehen sollte. Sie bewundere deren Kraft und deren Mut, auch weil der Blick in die Zukunft nicht immer einfach sei. Auch sei eine Lehre, die jetzt viele von ihnen gerne machen würden, ein wichtiger Integrationsfaktor. Und dann suchte sie das direkte Gespräch mit ihnen.
Quote
«Ich hatte die Möglichkeit, mit dem echten Leben dieser jungen Menschen in Berührung zu kommen und konnte unterschiedliche Lebenswege der ukrainischen Jugendlichen kennenlernen.»
An den Tischen merkten die Jugendlichen schnell, dass sich ihre Gesprächspartnerin sehr gut vorbereitet hatte. Sie stellte ihnen nicht nur allgemeine Fragen – wie geht es Ihnen? Welche Musik hören Sie gerne? Sondern sehr persönliche und direkte: Zu ihrer persönlichen bzw. familiären Situation, zu ihrem Umfeld in der Schweiz, zum Erlernen der deutschen Sprache, zum Unterschied der Schulssystem in der Ukraine und der Schweiz, zu ihren Lernerfahrungen, zur Suche nach einer Lehrstelle u.v.a.m. Zu Fragen machte sich Bundesrätin immer wieder Notizen, wenn sie nicht alles sofort beantworten konnte. Von Tisch zu Tisch zog der bundesrätliche Tross, meist begleitet von Walter Bernet, Präsident der Schulkommission, und dem Schweizer Fernsehen, das die Bundesrätin wegen eines Dok-Films in ihrem politischen Alltag filmte.
Quote
«Die Fragen von Baume-Schneider zeugen vom tiefen Verständnis für die Situation der vertriebenen Jugendlichen.»
Quote
«Es hat mir gefallen, dass die Bundesrätin offen und aufrichtig war, es war eine Freude, sie kennenzulernen.»
Beeindruckte ukrainische Jugendliche
Trotz anfänglicher Nervosität merken die Jugendlichen schnell, dass der Besuch nicht so 'steif' und offiziell war wie befürchtet. Diese Atmosphäre gefiel ihnen und liess sie entspannt mit der Bundesrätin über ihr Leben und ihre Pläne sprechen. Dies hat bei ihnen einen tiefen Eindruck hinterlassen. Erst so wurde ihnen die Bedeutung des soeben abgeschlossenen Programms und des ‚hohen Besuchs‘ bewusst. Sie fühlten sich geehrt und beeindruckt zugleich von der Bundesrätin, die mit viel Empathie und Verständnis mit ihnen über deren Sorgen und Nöte redete. «Das Gespräch mit der Bundesrätin war eine sehr wertvolle und positive Erfahrung und war voller Mitgefühl und Empathie», schrieb die Teilnehmerin Vlada an Dominique Sandoz Mey, und sie schätze die Besorgnis der Bundesrätin um ihre Situation sehr. Dass alles so gut klappte, war aber nicht selbstverständlich, bemerkte Andrii: «Wir waren alle nervös, aber wir haben es gut geschafft.» Und auch dass der gesamte Anlass nicht so ‚offiziell‘ war, hatte allen sehr gut gefallen; der Besuch sei ein unvergessliches Erlebnis für alle gewesen.
Quote
«Es war wichtig, Elisabeth und ihr Team zu treffen und mit ihnen zu sprechen und meine Lebenserfahrung zu teilen.»
Quote
«Der Besuch ist ein unvergessliches Erlebnis, das sich gelohnt hat. Ich war so besorgt und vorbereitet auf den Besuch, schade, hat sie mich bei der Frage unterbrochen.»
Nach einer Stunde näherten sich die Gespräche langsam ihrem Ende. Für das anschliessende Frühstück hatten die Jugendlichen typische Gerichte aus ihrer Heimat vorbereitet: Pfannkuchen mit Kirschen, Käsekuchen mit einheimischen Gewürzen und süssen Kuchen mit Äpfeln. Ein gemeinsames Abschlussbild bildete am Ende die bleibende Erinnerung an diesen ungewöhnlichen Gast aus Bern.
«Der Besuch der Bundesrätin kam genau zur richtigen Zeit und war der krönende Abschluss: Die Jugendlichen hatten sich seit Januar mit ihrer Situation, in der Schweiz bleiben zu müssen, intensiv auseinandergesetzt und waren bereit für die nächsten Schritte», resümierte Dominique Sandoz Mey ein paar Tage später den Besuch der Bundesrätin. Neben dem erreichten Ziel konnten es manche Jugendliche gar nicht fassen, dass jetzt alles zu Ende sei … Das nächste Kapitel beginnt aber schon bald: Mitte August werden zwei Jugendliche eine Lehre starten und die anderen besuchen ein Berufsvorbereitungsjahr. Wir dürfen gespannt sein, wie es weitergeht.