Mit seinen ABU-Klassen besucht Kursleiter Florian Schmid regelmässig das Europäische Parlament in Strassburg. Dabei erhalten die Kursteilnehmenden einen direkten Einblick in demokratische Prozesse und erleben, wie Politik in der Praxis funktioniert.
«Ich hätte nie gedacht, dass ich einmal ein Parlament besuche und sehe, wie Abstimmungen ablaufen.» Dickyi kommt ursprünglich aus Tibet, arbeitet in der Pflege und macht an der EB Zürich den Kurs für Allgemein Bildenden Unterricht (ABU). Nach dem Besuch des EU-Parlaments zeigt sie sich begeistert, denn zusammen mit anderen Teilnehmenden erlebt sie heute direkt, wie Politik in der Praxis funktioniert. Ihre afghanische Kollegin Najla stimmt ihr zu: «Es lohnt sich wirklich, hierherzukommen und selbst zu erleben, wie ein Parlament funktioniert – es war mega interessant!»
Florian Schmid, ABU-Kursleiter an der EB Zürich, bespricht im Unterricht das politische System der Schweiz und der Internationalen Organisationen, viel lieber zeigt er aber seinen Teilnehmenden, wie Politik in der Praxis funktioniert. Daher organisiert er regelmässig Besuche im EU-Parlament (EP) in Strassburg oder bei der UNO in Genf. In seinen Kursen schaut er gerne über den eigenen Tellerrand hinaus, auch weil die Teilnehmer/innen aus Armenien, Afghanistan, Tibet, Somalia, Eritrea, Südafrika und vielen anderen Ländern stammen. Wichtig ist ihm daneben, dass Berufslernende einen Ausflug machen und dabei von ihren Betrieben unterstützt werden – keine Selbstverständlichkeit, wie die Praxis und die ein oder andere Absenz zeigen.
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«Vor Ort lernt man viel besser als in einem Schulzimmer, der Eindruck ist nachhaltiger.»
Treffen mit EU-Parlamentarierin
Das Gebäude des Europäischen Parlaments ist imposant und auch im Inneren beeindruckend. Bis zu den Abgeordneten vorzudringen, benötigt Zeit – Sicherheit wird grossgeschrieben. Doch endlich stehen Florian Schmid und seine Gruppe Viola von Cramon-Taubadel gegenüber. Seit 2019 sitzt sie für die Grünen Deutschlands im EP. Ihre Schwerpunkte sind Osteuropa, der Westbalkan, der Umgang mit Desinformation sowie Geldwäsche und Korruption. Die ersten beiden Themengebiete waren der Grund, genau sie in Strassburg zu besuchen: Einige Kursteilnehmende kommen aus diesen Regionen und noch immer leben dort Angehörige von ihnen.
Zu Beginn des Treffens erzählt die EU-Abgeordnete über sich, ihren Werdegang in der nationalen und europäischen Politik sowie über die Schwerpunkte ihrer politischen Arbeit. Es ist nicht zu übersehen, dass ihr diese sehr am Herzen liegen: Bereits als Studentin besuchte sie viele Länder dieser Regionen und arbeitete dort an Projekten mit. Anschliessend ist die Besuchergruppe an der Reihe, Frau von Cramon-Taubadel Fragen zu stellen: zu Armenien, zum russischen Krieg gegen die Ukraine, zum Verhältnis EU – Schweiz u.v.a.m. Ihre Antworten sind sehr ausführlich und detailliert, und schon drängt die Zeit zum Aufbruch: Die Abgeordnete muss um Punkt 12 Uhr im Parlament sitzen, wichtige Abstimmungen stehen an. Auf dem Weg gibt es noch Gelegenheit für ein gemeinsames Foto vor den Flaggen aller 27 EU-Mitglieder und das ein oder andere Selfie.
Schon kurze Zeit später ist Frau Cramon-Taubadel wieder zu sehen: Die Besucherränge im EP bieten einen guten Blick in den Plenarsaal und auf die vielzählig anwesenden Abgeordneten. Speditiv stimmen sie per Handzeichen über einzelne Vorlagen ab; ist das Votum nicht eindeutig, wird zusätzlich elektronisch gewählt. Nicht selten ist ein Raunen im Saal zu vernehmen, wenn ein Ergebnis knapper ausfällt als erwartet. Es ist beeindruckend zu sehen, wie konzentriert die Abgeordneten bei der Sache sind und die zu behandelnden Vorlagen und Abstimmungen verabschieden.
Strassburg – Stadt früherer Erzfeinde
Der Besuch des Parlaments ist sehr erkenntnisreich und dauert länger als geplant, dennoch bleibt noch etwas Zeit, das Zentrum von Strassburg zu besuchen. Der Zankapfel der beiden Erzfeinde Deutschland und Frankreich ist als Sitz dieser wichtigen EU-Einrichtung ein Sinnbild für die Aussöhnung zweier Länder, die in den letzten 150 Jahren drei verheerende Kriege miteinander geführt haben. Ob dies anderen verfeindeten Ländern als Vorbild dienen wird?
Dass der Besuch des EU-Parlaments bei den Kursteilnehmenden einen nachhaltigen Eindruck hinterlässt, weiss Florian Schmid von den Rückmeldungen. «Sie werden in ihrem Umfeld von dieser Reise erzählen, vom Parlament als einem wichtigen Beitrag für die Demokratie.» Die vielen positiven Bemerkungen der ABU-Teilnehmenden Isabelle, Brahim, Anna, Simbo und Luana am Ende der Reise sind sichtbarer Ausdruck davon.
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«Ich war das erste Mal in einem Parlament und war sehr beeindruckt zu sehen, wie Abgeordnete abstimmen.»
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«Heute habe ich gesehen, wie Demokratie funktioniert.»
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«Der Besuch hat mir einen Einblick in gelebte Politik gegeben.»
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«Es war eine sehr gute Erfahrung zu sehen, wie transparent eine Abstimmung abläuft; wenn es so in Südafrika funktionieren würde, würde es sehr stark werden.»
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«Es war das erste Mal, dass ich so direkten Kontakt zu einer Politikerin hatte, ihr Fragen stellen und ihr zuhören konnte.»
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Kursleiter Florian Schmid hat an der Universität Zürich Politische Wissenschaften studiert sowie einen Master in Erziehungswissenschaft abgeschlossen. Seit vielen Jahren unterrichtet er in ABU-Kursen und ist nebenberuflich politisch tätig. Schmid ist Präsident der Gesellschaft zur Förderung der grenzüberschreitenden Zusammenarbeit (GFGZ), einer Denkfabrik und NGO, die Brücken bauen, Vorurteile abbauen und grenzübergreifende Begegnungen ermöglichen will. Zu diesem Zweck veranstaltet die GFGZ Seminare, Podiumsdiskussionen, Studienreisen etc. und unterstützt Projekte in Osteuropa wie z.B. in Charkiw (Ukraine) und St. Petersburg (Russland).