Am «Morgen-Gipfel» von EB Connect präsentierte Steven Walsh, Strategy & Partner Manager «Next Generation» bei Swisscom, das unkonventionelle Rekrutierungsmodell des ICT-Konzerns.
Der «Morgen-Gipfel» ist seit acht Jahren ein beliebter Treffpunkt für Bildungsverantwortliche von Lehrbetrieben und Organisationen. Ende Februar 2025 widmeten sich die Teilnehmenden dem Thema: «Mensch vor Dossier! Wie kann die Rekrutierung von Lernenden dossierfrei gelingen?».
Eine Antwort auf diese Frage wusste Steven Walsh, Strategy & Partner Manager «Next Generation» bei Swisscom: Wer sich beim ICT-Konzern für eine Lehrstelle bewirbt, muss seit 2022 kein Bewerbungsdossier mehr einreichen – und damit auch kein Motivationsschreiben und keine Schulzeugnisse.
Herausforderungen der klassischen Rekrutierung
Swisscom bietet jährlich rund 200 bis 230 Lehrstellen an, davon über zwei Drittel in ICT-Berufen. In der Vergangenheit sichteten die Verantwortlichen bis zu 8000 Bewerbungen pro Jahr. Der Vergleich der Dossiers über alle Landesteile war seit je her eine Herausforderung, weil Bewerber/-innen sehr unterschiedliche Dossiers einreichten und die Aussagekraft der Schulnoten zwischen den Sprachregionen, Kantonen, Schulen oder Lehrpersonen stark variierte. «Die Rekrutierung war daher mit einem hohen Aufwand verbunden», sagt Walsh. «Und trotzdem fanden wir teilweise nicht diejenigen Lernenden, die am besten zur Unternehmenskultur und zum Ausbildungsmodell von Swisscom passten.»
So funktioniert die Bewerbung ohne Dossier
Um effizienter zu sein, verzichtet Swisscom heute auf die Sichtung des Dossiers und lernt die Jugendlichen stattdessen in alltagsnahen Situationen kennen. Die offenen Lehrstellen schreibt der ICT-Konzern jeweils Anfang August während einigen Tagen online aus. Bewerber/-innen registrieren sich via Webtool und beantworten wenige Fragen per Video. Ein Team bewertet diese Videos nach einem strikten Kriterienkatalog und lädt anschliessend pro Bewerbungsnachmittag 18 Personen zu einem Assessment ein. Den Assessoren sind dabei nur Namen und Berufswunsch der Kandidaten bekannt. Dank des neuen Prozesses konnte Swisscom den Rekrutierungsaufwand reduzieren: «In der Grobselektion haben wir heute eine deutlich tiefere Anzahl Bewerbungen als vorher», so Walsh.
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«Das Fachwissen und die Skills lassen sich vermitteln und entwickeln – doch die Haltung eines Menschen ist in gewissen Zügen gesetzt.»
Erfolg in der Praxis
Nach zwei Jahren evaluierten die Verantwortlichen das Pilotprojekt, wozu die Lernenden ihre Schulzeugnisse nachreichen mussten. Dabei zeigte sich: Obwohl bei der Rekrutierung kein bestimmter Schulabschluss verlangt und keine Schulnoten gesichtet werden, wichen diese kaum ab von denjenigen der Lernenden aus den Vorjahren ab. Es gab weder mehr Probleme mit den Lernenden noch kam es zu mehr Lehrabbrüchen. Wie die Erfolgsquote beim Lehrabschluss aussieht, werden die kommenden Qualifikationsverfahren zeigen. Für Swisscom steht aber jetzt schon fest, dass sie Lernende auch zukünftig ohne Dossier rekrutieren wird.
Reaktionen aus dem Publikum
Nach dem fachlichen Input von Steven Walsh stellten die Teilnehmenden Fragen und tauschten Erfahrungen aus. Die Meinungen waren geteilt: Einige fanden dieses Rekrutierungsmodell mutig und für die Chancengleichheit förderlich. Andere äusserten ihre Bedenken, unter anderem wegen der Gefahr, schlechte Schüler in der Lehre zu überfordern. Wie aussagekräftig sind Schulzeugnisse, gerade im Hinblick auf die Verhaltensbeurteilung?
Gabrielle Leisi, Leiterin Projekte bei EB Connect, zeigte sich erfreut angesichts der regen Diskussion: «Klar: Die meisten Lehrbetriebe verfügen nicht über die gleiche Menge an Lehrstellen wie Swisscom und haben damit nicht den Druck, den Rekrutierungsprozess effizienter zu gestalten. Dennoch wollten wir das Thema aufgreifen, um Impulse zu setzen und das Out of the box-Denken zu fördern. Ich denke, das ist uns gelungen.»
Teilnehmerstimmen:
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«Der Mensch ist wichtiger als das Diplom. Diese Haltung gefällt mir und ich finde es mutig, mit den klassischen Rekrutierungselementen zu brechen – gerade in unserer heutigen Leistungsgesellschaft. Auch Menschen mit schwächeren Schulnoten haben eine Chance verdient.»
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«Das Rekrutierungsmodell von Swisscom ist sehr individuell auf das Unternehmen abgestimmt und daher nicht in jedem Lehrbetrieb einsetzbar. Es war jedoch ein interessanter Denkanstoss: Das eine oder andere Element zu implementieren, kann ich mir gut vorstellen.»
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«Ich bin dankbar, dass es eine Plattform wie den Morgen-Gipfel gibt, bei der man sich mit so vielen Berufsbildungsverantwortlichen aus verschiedensten Branchen austauschen kann. Ich gehe immer inspiriert aus der Veranstaltung und es ‘schafft immer noch in mir nach’.»
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Der nächste Morgen-Gipfel findet am 25. Juni 2025 statt zum Thema «KI im Lehrbetrieb». Sind Sie an einer Teilnahme interessiert? Schreiben Sie uns ein E-Mail an: gabrielle.leisi@eb-zuerich.ch